20. April 2024, 14:16 Uhr

Polizei zieht Bilanz zur BAO „Berg“

"Kindesmissbrauch in der Mitte der Gesellschaft angekommen"

Ich möchte die Leser dieses Artikels vorwarnen. Er ist keine angenehme Berichterstattung und könnte empfindliche Leser erschüttern. Die geschilderte Bilanz der BAO Berg ist erschütternd und die geschilderten Erfahrungen drastisch.

Nun muss man natürlich journalistischen Abstand gewinnen, aber das fiel mir nicht leicht. Meine bekannten stilistischen Spitzen sind mir jedenfalls  beim Schreiben vergangen. Dies ist ein erschütternder Artikel.

Die BAO „Berg“ wurde vor 26 Monaten gegründet, nachdem sich aus dem „Missbrauchskomplex Bergisch-Gladbach“ bundesweite Anfangsverdachte häuften, die sich zu immer größeren Umfängen entwickelten. Polizeipräsident Jakob hob hervor, daß sehr schnell auch vom Land Nordrhein-Westfalen Mittel und Personal bereitgestellt wurden und auch länderübergreifend schnell und effizient zusammengearbeitet werden konnte.

Es wurden sogenannte „Datenspürhunde“ eingesetzt, die USB-Sticks und andere Datenträger aufspüren können ebenso Spezialkräfte („SEK“) für den schnellen Zugriff auf „offene“ PCs. Der „Keller des Polizeipräsidiums sei voll mit Computern und Datenträgern“, so Jakob. Verlässliche Angaben zu den Datenmengen liegen angesichts des Umfangs nicht vor. Als Beispiel wurde ein Smartphone mit über 133.000 Fotos und 1348 Videos genannt. Insgesamt wurden 4729 Datenträger beschlagnahmt.
Auch die selten angewendete Rasterfahndung kam zum Einsatz. Dabei werden große Datenbestände mit bestimmten Kriterien abgeglichen, ein Mittel, das das BKA zur Terrorbekämpfung der RAF in den 70ern entwickelt hat.

Die Täter

Es wurden in Deutschland 439 Tatverdächtige ermittelt.

Die ermittelten Täter stammen aus allen gesellschaftlichen und Bildungsschichten, „gut gebildete Leute, einfache Leute“, so Esser. Die meisten sind engste Familienangehörige. Verdachte gegen weibliche Beschuldigte erhärteten sich nicht, in der Regel handelte es sich um männliche Täter. Es gab 27 festnahmen, davon 13 in NRW.

Polizeipräsident Jakob zog eine für die Polizei ungewöhnliches Resümee:

„Ich bin sehr erfreut darüber wie die Gerichte diese Fälle bewerten, die wir ermittelt haben“

Dem schloß sich auch Oberstaatsanwalt Markus Hartmann von der Zentralstelle Cybercrime NRW an. Zur internationalen Dimension äußerte sich Hartmann zurückhaltend. Auch in den USA, Frankreich, Finland, Schweiz und Österreich sowie den Niederlanden wurden Täter ermittelt. Die internationale Rechtshilfe war laut Staatsanwalt Hartmann dabei nicht immer einfach. Dennoch gelang es, auch über die Social Media-Betreiber schnell an die Täter heranzukommen. In den Netzwerken wurden auch verdeckte Ermittler eingesetzt.
Die identifizierten Tatverdächtigen sind überwiegend in NRW ermittelt worden. Von 429 stammen 102 aus NRW, 39 aus Baden-Württemberg, 24 aus Niedersachsen, jeweils 18 aus Hessen und Sachsen, 14 aus Schleswig-Holstein, 12 aus Berlin. Bei einem Skype-Einsatz wurden weitere 102 Tatverdächtige erfasst.

Von 15 Angeklagten sind 12 rechtskräftig verurteilt, einer davon mit anschließender Sicherungsverwahrung, einer mit einer Unterbringung in der psychiatrischen Forensik. Eine weitere Verurteilung mit Sicherheitsverwahrung ist noch nicht rechtskräftig. Zwei Angeklagte sind vor der Hauptverhandlung verstorben. Insgesamt wurden bisher 80 Jahre Freiheitsstrafen ausgesprochen, einzelne Verfahren dauern aber noch an.

Die Opfer

Polizeipräsident Jakob betonte seinen Dank an die zahlreichen Ermittlerinnen und Ermittler, die die unfassbaren Taten, Bilder und Videos ermittelt haben. Allein bei der Kölner Polizei wurden 183.000 Personalstunden aufgebracht, das sind 130 Personaljahre, so Kriminaldirektor Esser, der Leiter der BAO „Berg“.

Die Mitarbeit war freiwillig und wurde psychologisch betreut, so Jakob, wer aussteigen wollte, konnte das jederzeit.
Die Seelsorger und Psychologen mussten enormes leisten und selbst in sogenannter „Supervision“ betreut werden. Jakob berichtete von
Ermittlerinnen und Ermittlern, wie sie mit ihrer Aufgabe umgingen. Drei Polizeibedienste waren infolge der Belastungen längere Zeit dienstunfähig, mehrere haben die BAO Berg auf eigenen Wunsch verlassen. Die psychosoziale und unterstützende Betreuung wurde 24/7 in Anspruch genommen.

Immer wieder wurden Erkenntnisse gewonnen, die zum sofortigen Handeln zwangen. Oberstaatsanwalt Hartmann nennt das emotionslos „Gefahrenüberhang“: Kinder mussten aus akuten Missbrauchssituationen befreit werden, auch wenn dadurch weitere Ermittlungen gefährdet wurden.

Die Ermittler mussten unglaubliches Leid erleben. In 120 Durchsuchungsobjekten in Deutschland konnten 65 Kinder aus Missbrauchslagen befreit werden. Das jüngste Opfer war 3 Monate alt, das älteste 17 Jahre.
Esser berichtete, wie kleine Kinder noch ihren festgenommenen Vergewaltigern nachweinten oder sich an Stofftiere klammerten, die ihnen „der Onkel geschenkt hatte“. Es ist kaum vorstellbar, was Kinder mit ihren Vertrauenspersonen erleben mussten und mir fallen die Worte schwer. In den meisten Menschen entstehen Wut und Rachegefühle angesichts der Ohnmacht gegen solche Gräuel. Daher ist die Äußerung von Polizeipräsident Jakob zu den Gerichtsurteilen auch verständlich, so trocken und emotionslos sie auch vorgetragen wurde – professioneller Abstand zu ungeheuren Taten.
Einer Frage von mir, ob man denn aus den Erkenntnissen etwas zur Prävention gelernt hätte, wich Jakob leider aus, ich konnte aber leider online nicht mehr nachfragen, wahrscheinlich war meine Frage nicht ausreichend verständlich gestellt. Online-Pressekonferenzen sind da leider recht schwierig. Jakob nannte aber eine wissenschaftliche Begleitung und Aufarbeitung auf Landesebene.

In Berlin ist man da etwas weiter: die Charité bietet seit ungeföhr 10 Jahren unter https://www.kein-taeter-werden.de/ auch Menschen mit entsprechendem Drang Hilfe an, bevor sie Täter werden. Vielleicht ein Vorbild für ganz Deutschland, denn Kindern hilft man am besten, bevor sie Opfer werden. Leider ist die Polizei da falsch aufgestellt, denn sie kann erst tätig werden, wenn eine Straftat vorliegt.

Das Fazit

Trotz aller Ermittlungserfolge zieht auch Polizeipräsident Jakob eine ernüchternde Bilanz

„Ich glaube nicht, daß wir mit der BAO Berg eine erhebliche Abschreckung erreicht habem das zeigen die informationen die wir haben ganz deutlich, es findet weiter sexueller Missbruach in unserer Gesellschaft statt. Den werden wir weiterhin bekämpfen“

Michael Esser fasste es noch drastischer zusammen:

„Kindesmissbrauch in der Mitte der Gesellschaft angekommen“

Jakob war aber auch der Meinung, „daß sich jede einzelne Stunde Einsatz gelohnt“ habe. Das mag für den Ermittlungserfolg gelten, für die Prävention gilt das weniger, die Abschreckungswirkung hatte Jakob schon zu Anfang als gering betrachtet.

Nach nunmehr 26 Monaten wird die BAO „Berg“ aufgelöst und die weiteren Ermittlungen von neuen Kommissariaten weitergeführt. Die Polizei bezeichnete die Zahl der „offenen Spuren“ mit 500 im Vergleich zu 2589 abgeschlossenen Spuren. Diese lassen vorerst keine unmittelbar abzuwendende Gefahr vermuten. Die Ermittlungen werden also die Polizei und Staatsanwaltschaften noch einige Zeit beschäftigen und hoffentlich neue Ansätze liefern. Die Opfer werden aber ihr Leben lang damit leben müssen. Einen präventiven Ansatz kann leider auch die BAO „Berg“ nicht bieten. (mj)

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Die Stadt Köln besitzt eine Waldgrabstätte im Königsforst, der zum Stadtgebiet von Bergisch-Gladbach gehört. Der Unternehmer Hubert Josef Hausmann vermachte dieses Grundstück, auf dem er und seine beiden Hunde begraben sind, nebst viel Geld und Immobilien der Stadt, die dafür die Grabpflege übernahm.